Lotte Merkh //

Ärztin der Armen


Lotte Merkh war eine der wichtigsten Mitbegründerinnen der diakonischen Einrichtungen von Gustav Werner in Württemberg.


Über das Elternhaus erfahren wir von ihrer Schwester Nane: "Zu den reichen und angesehenen Leuten gehörten unsere Eltern nun zwar nicht, wohl aber zu dem guten echten Mittelstand, wie er in einer Stadt wie Reutlingen .... stark vertreten ist .... Unser Vater war ein Handwerksmann, zwar nicht aus Neigung, aber als der älteste Sohn seines Vaters sollte er auch das Handwerk desselben betreiben und darüber nicht hinaus wollen." (NM S.4)

"Er war ein ernster, mehr in sich gekehrter, überaus rechtlicher, fein angelegter Charakter. In anderer Lebensstellung und entsprechen-dem Beruf wäre er mehr zur Geltung und Entfaltung gekommen, als es der Fall war. Nicht daß er sich für die geringste Arbeit seines Berufes zu gut hielt, aber es war nicht sein Element und war er für einen gewöhnlichen Handwerksmann eigentlich zu gebildet. Er verkehrte auch viel lieber mit gebildeten Leuten als mit ungebildeten, und man hätte ihn sehr wohl für eine sogenannte Standesperson halten können... In der Erziehung der Kinder legte er der Mutter nichts in den Weg, da er überhaupt nicht viel sprach, auch keine Schläge austeilte, das besorgte die Mutter selber."(NM S.11)

"Jeder Bürger hatte damals so viel Güter, als er für seine Familie an Frucht und Ge-müse brauchte, dazu eine oder zwei Kühe. Die kleine Landwirthschaft betrieb man nebenher selber und mußten wir als kleine Mädchen schon überall mithelfen.... Dann hatten unsere Eltern ein eigenes Haus, zwei Kühe, einen kleinen Laden, 8 Kinder, aber nur keine Kapitalien, sondern Schulden. Dies war der einzige Schatten, der in unsere Jugendzeit hineinfiel, denn unsere Mutter war ein einziger Sorgenstern, bis wieder der Zins bezahlt war. .... So drückend es für Eltern ist, wenn sie Schulden und kleine Kinder gewöhnlich beieinander haben, so zuträglich ist es für die Kinder; diese werden dadurch in einer rechten bürgerlichen, soliden Familie in der Einfachheit und Sparsamkeit erzogen .... ging von dem Grundsatz aus, daß man schon im jugendlichen Alter die Kinder zur Mäßigung und Ordnung gewöhnen mußte. ..... Reinheit und Pflege tragen zum Gedeihen von Kindern ebensoviel bei ... Was man in der frühesten Jugend gewöhnt wird, das verliert sich im ganzen Leben nicht mehr; so kam es auch, daß wir in die einfache Lebensweise des Bruderhauses uns so leicht finden konnten; wir wurden es daheim gewöhnt." (NM S. 6/7)

Diese "Gewöhnung" hat sich als die rechte "Grundausbildung" für Lotte erwiesen. Denn Anfang März 1853, etwa 4 Wochen, bevor Lotte konfirmiert wurde, starben innerhalb von 2 Tagen Vater und Mutter. Bei der Beerdigung hatten sich Verwandte erboten, Lotte zu sich zu nehmen, aber bis zur Konfirmation im April ließen sie nichts mehr von sich hören. So ging Lotte mit ihrer Schwester Nane ins Bruderhaus, wo diese schon seit Nov. 1852 lebte. Nane schreibt: "Weil nun also Lotte wirklich nie-mand wollte, was ihr selber am liebsten war, so kamen wir vier, der Bruder und drei Schwestern, am 30. Juni 1853 ins Bruderhaus." (NM S.72) Bis Ende des Jahres 1854 kam auch die letzte der Schwestern ins Bruderhaus.

Lotte war also 14 Jahre alt, als sie ins Bruderhaus zog. Sie wurde von Sophie Schöller "sogleich in Unterricht und Erziehung genommen" (NM S. 100) - mehr als es ihrer Schwester Nane lieb war. Sophie Schöller war eine der ersten Elementarlehre-rinnen in Württemberg, die auf Gustav Werners Betreiben eine Ausbildung und staatliche Prüfung gemacht hatte. Sie hielt Lotte "wie geschaffen zu einer Lehrerin" und gab sich "alle Mühe, sie ganz und in allen Theilen nach sich zu bilden". (NM S.101) Die 10 Jahre ältere Schwester Nane hielt es für gewagt, "so ein junges Mädchen ganz in das geistige Gebiet zu verpflanzen" –sie schreibt weiter: "ich trug streng darauf an, daß sie (=Lotte) zugleich an allen Arbeiten des Hauses teihlnehmen müsse, damit sie sich nicht für mehr halte als die anderen und es hat ihr nichts geschadet"

Bereits 3 Jahre später, also 1856, kam Lotte in den Schwarzwald nach Roth zu den Kindern. Dort konnte sie "alles anwenden, was sie gelernt hatte, sowohl in praktischer wie in theoretischer Hinsicht". Da es in der Ortsschule in Roth "an allem fehlte" und die Kinder "alles mögliche mit heim brachten, was in einer Anstalt nicht sehr erwünscht ist," versuchte Lotte selber zu unterrichten. Sie begann in der Sonntagsschule mit den Größeren, und mit der Zeit ging es ganz gut. Freilich – so berichtet ihre Schwester - war es "kein leichter Anfang für ein Mädchen von 17 Jahren, so von allem weg, was ihr lieb und vertraut. .... Lotte blieb bis 1861 in Roth und konnte sich, wie früher die Schulmeister, im praktischen Leben statt des Seminars .... zur Lehrerin ausbilden." (vgl. NM S. 101)

Sie muß aber auch noch eine Art Seminar-Ausbildung gemacht haben, wie einem Brief von Gustav Werner an sie zu entnehmen ist. Er schreibt am 26. Nov. 1861: "Komm nur bald, damit du den Lehrkurs, der schon begonnen hat, benutzen kannst .. bist du gehörig ausgebildet, kannst Du unsere Mädchen nachziehen" Und er fügt hinzu: "Es wäre mir eine große Freude, wenn einmal unser Lehrerinnen-Institut im rechten Gang wäre, es wäre damit den Jungfrauen eine so schöne Laufbahn eröffnet." (Schäfer, S.213)

In Reutlingen war sie dann auch als Lehrerin tätig, und zwar in der Schule des Rettungswerks. Gustav Werner hatte 1850 unter Befürwortung des Schultheiß vom Konsistorium die Genehmigung bekommen, eine Kleinkinderschule "auch für arme Kin-der der Stadt" zu eröffnen. Diese Schule entwickelte sich gut und hatte 1861 drei Klassen für 130 bis 140 Kinder. (vgl. Krauss1 S. 103) In einem Bericht vom 2.2.1864 wird Lotte Merkh neben Oberlehrer Schairer und Hilfslehrer Maurer dort als Lehrerin angeführt.

Wie aus Briefen von Gustav Werner (siehe Schäfer S.483ff) hervorgeht, muß sie dann um 1869/70 in Alpirsbach gewesen sein. Dort wurden Mädchen versorgt und unterrichtet, und es gab ein "Ladengeschäft als Stütze der Anstalt( vgl. Krauss1 S.137).

In späteren Jahren hat Lotte das große Strickwarengeschäft der Hausgenossenschaft in Reutlingen geleitet. Dort sind über die Jahre hin wesentliche Beiträge zur Finanzierung der Häuser und Fabrikgebäuden erwirtschaftet worden. "Später hatte sie eine leitende Stellung im Büro der immer größer werdenden Gustav Wernerschen Anstalten" (Göggelmann, S.48) Von ihr sollen die Pläne des Kinderhauses in der Gustav-Werner-Straße stammen, einem freundlichen, dreistöckigen Backsteinbau, der 1883 bezogen wurde.

Nach dem Tod ihrer Schwester Nane 1896 wurde Lotte "für mindestens zwei Jahrzehnte zur dominierenden Gestalt unter den Hausgenossinnen, die den Geist und das Leben innerhalb des Bruderhauses entscheidend prägte". (Krauss2 S. 133)

In Nachfolge ihrer Schwester gab sie ab 1897 die Friedensblätter, später "Friedenbote", heraus, eine Zeitschrift mit Predigten von Gustav Werner und Berichten über das Mutterhaus und die Zweiganstalten. In diesen Heften ist eine Reihe von Texten aus ihrer Feder, ohne daß sie entsprechend gekennzeichnet sind: fast nie findet man die Initialen L.M.. Auch das Buch "Vater Werner – Bilder aus seinem Leben und Wir-ken", das sie1909 zum 100.Geburtstag Gustav Werners herausgegeben hat , enthält auf der Titelseite nicht ihren Namen. Nur unter der Einleitung weisen die Buchstaben L.M. auf Lotte Merkh als Herausgeberin hin.

In dieser Einleitung schreibt sie: "Für unsere Jugend" wollen wir ein Büchlein schreiben zu Vaters 100.Geburtstag, aber auch die Alten sollten ihre Freude daran haben. ... Wir bringen keine zusammenhängende Lebensgeschichte, nur Bilder, schöne Bilder aus der Jugend und dem späteren Leben und Wirken Vater Werners und seiner Mitarbeiter und – Arbeiterinnen..." (LM Zur Einleitung).

Für die damalig Zeit auffällig ist die Nennung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Das trägt wohl der unübersehbaren Tatsache Rechnung, dass Frauen in der Hausgenossenschaft in der Überzahl waren. Es war schon ein Thema, zu dem Lotte sich verschiedentlich geäußert hat, dass so wenig Männer zur Hausgenossenschaft gehörten.

Auch im Nachtrag des Buches kommt sie darauf zu sprechen. Zunächst beschreibt sie den Stil des Umgangs und der Zusammenarbeit von Gustav Werner und der Hausgenossenschaft: "Die Hausgenossenschaft war der Arm, mit dem Vater Werner seine Anstalten bauen und in Ordnung halten konnte. Sie gingen auf seine Pläne ein und halfen, dieselben auszuführen. Daher schätzte er sie auch und tat nichts ohne sie.

"Ich muß meine Leute vorher darüber hören oder es ihnen sagen" war die oft von ihm gehörte Rede. Er wußte, daß sie der ausführende Teil sein mussten, daher beehrte er sie auch mit seinem Vertrauen. Dieses Vertrauen belohnten sie durch Treue und hingebenden Dienst, ..... Das waren und sind die alten Hausgenossen, die von ihrer Habe nicht sagen, daß sie ihnen gehöre, sondern sich freuen, wenn sie zum Nutzen des Ganzen etwas beitragen können. Möchte dieser göttliche Same bei uns nie aussterben!" Und dann der Wunsch: "Möchte auch die männliche Jugend wieder mehr zu diesem Dienst erweckt werden!" Werbend fährt sie fort: "Vater Werner konnte manchmal klagend aussprechen: Wenn die jungen Leute es nur auch bedenken würden, welch schöne Stellungen sie einmal in dieser Arbeit einnehmen könnten, sie würden sich eher dazu hergeben und nicht nur für sich und die Welt leben wollen. So viel ist gewiß, daß es unsern Kindern und Pfleglingen wohl ist in unseren Häusern. Wir stehen unter einem wunderbaren, starken Schutz. "Der ein Vater ist der Waisen und ein Richter der Witwen" – das dürfen wir mit dem Psalmisten rühmen" (LM S. 314f).

Nach jahrelangem Siechtum bis zur völligen Hilflosigkeit starb Lotte Merkh 1925 im Alter von 86 Jahren.

Ihre literarische Tätigkeit war zusammen mit der ihrer Schwester Nane wohl der wichtigste Beitrag für die Pflege des Andenkens an Gustav Werner in und außerhalb der Stiftung. Wo über diesem Andenken aber Lotte Merkh selbst und die anderen Frauen in die Vergessenheit geraten, kann man über Gustav Werner nur als einen Mann ohne Arme reden. Waren doch vor allem diese Frauen sein "Arm, mit dem ... seine Anstalten bauen und in Ordnung halten konnte", seine Ratgeberinnen, die er hören mußte, ohne die er nichts tat und die er mit seinem Vertrauen ehrte.

Dorothee Schad, 1999

 

Literaturhinweise

Nane Merkh, Einige Züge aus der Geschichte des Bruderhauses, 1881 (NM)
Friedensblätter, Jahrgänge 1884-1896 hrsg. von Nane Merkh
Friedensblätter, Jahrgänge 1897-1900 hrsg. von Lotte Merkh
Friedensbote, Jahrgänge 1900 bis ?? hrsg. von Lotte Merkh
Lotte Merkh, Vater Werner – Bilder aus seinem Leben und Wirken, 1909 (LM)
Paul Krauss, Gustav Werner Werk und Persönlichkeit, 1959, 2. Auflage 1974 (Krauss1)
Paul Krauss, Gustav Werner und seine Hausgenossen, 1977 (Krauss2)
Ursula Göggelmann/Marianne Martin, Frauen im Schatten Gustav Werners, In: Weibs-Bilder Reutlingen, Dokumentation zur Ausstellung, 1992. S.39-49 (Göggelmann)
Gerhard K.Schäfer (Hrsg.) Dem Reich Gottes Bahn brechen, Gustav Werner (1809 – 1887)
Briefe, Predigten, Schriften in Auswahl, 1999 (Schäfer)